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Robert Obermaier: Kontinuitäten und Diskontinuitäten im österr. Hochschulsystem anhand der Biografie des Prähistorikers Oswald Menghin

Videoaufzeichnung vom 14. November 2023

Robert Obermairs Disseration wurde mehrfach auszeichnet und erschien 2024 in englischer Sprache im Verlag De Gruyter.

Es ist kurz vor Ostern im Frühjahr 1948. An der österreichisch-italienischen Grenze verhaftet die italienische Polizei einen Flüchtling. Einen damals knapp 60-jährigen Österreicher, schütteres Haar, schmale Lippen. Sein Name: Oswald Menghin. Er wird ins Tiroler Dorf Nauders gebracht, wo ihn die Polizei eine Nacht festhält, dann wieder freilässt. Die dringliche Anweisung aus Wien erreicht Tirol erst nach den Osterfeiertagen: „Dieser Mann ist ein Kriegsverbrecher! Sofort festhalten“. Zu diesem Zeitpunkt befindet sich Oswald Menghin längst in Italien. Bei nochmaligem Versuch hat die Flucht geklappt. Katholische Priester in Italien helfen ihm zu neuen Papieren. In Genua geht er an Bord Richtung Buenos Aires. Sein neues Leben in Argentinien kann beginnen.

Gesucht, geehrt und bis heute gewürdigt

Der Prähistoriker Oswald Menghin war überzeugter Nationalsozialist. 1935/36 leitete er die Universität Wien als Rektor. 1938 war er Unterrichtsminister im sogenannten „Anschluss“-Kabinett. Nach 1945 galt Oswald Menghin als Kriegsverbrecher – allerdings nur für kurze Zeit. Was lässt sich anhand von Menghins Biografie über das Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert sagen? Welche Rolle spielten rechte Netzwerke für seinen Lebensweg? Und warum waren Männer wie Menghin so wichtig für die NS-Führung? Der Salzburger Zeithistoriker Robert Obermair hat sich für seine Dissertation auf Spurensuche begeben. Sechs Jahre lang hat er zum Leben von Oswald Menghin geforscht: in Europa, den USA und Südamerika.

Von Anfang an konservativ sozialisiert

Oswald Menghin kam 1888 in Meran in Südtirol zur Welt. „Schon sein Vater hat sich in sehr konservativen, katholischen, nationalistischen, teils antisemitischen Kreisen bewegt“, sagt Robert Obermair. Anfang der 1920er unterstützte Oswald Menghin Bewegungen für ein vereintes Tirol. Seine weitreichendere Hoffnung, das vereinte großdeutsche Reich, schien ein gutes Jahrzehnt später in greifbare Nähe zu rücken.

Rechte Männer-Netzwerke waren sein Sprungbrett

„Oswald Menghin war ein ‚Brückenbauer‘“, sagt Historiker Robert Obermair, „er zählte zu jenen, die darauf hingearbeitet haben, dass Österreich zu existieren aufhört und der ‚Anschluss‘ reibungslos funktioniert und legitimiert wirkt“. Was Oswald Menghin dafür nutzte waren rechte Netzwerke. Schon als Menghin fürs Studium der Germanistik, Geschichte und Prähistorischen Archäologie nach Wien ging, trat er diversen Verbindungen bei. Die Liste ist lang: Oswald Menghin wurde Teil des Cartellverbandes – unter anderem der Rudolfina, trat dem kulturkonservativen Kralik-Kreis bei und der Leo-Gesellschaft, die die Unis katholisch reformieren wollte. Außerdem wurde er in Tiroler Communities aktiv, etwa dem Andreas Hofer-Bund. Noch vor dem „Anschluss“ folgten zudem der Deutsche Klub, die Deutsche Gemeinschaft und die Bärenhöhle – letztere war eine Gruppe von Professoren, die Jobs für jüdisches oder linkes Personal an Unis verhinderte. Zudem hatte er gute Verbindungen in die Wissenschaft und auch zur nationalsozialistischen und zur austrofaschistischen Elite. Nazi-Deutschland erkannte ihn als nützlichen Mittelsmann. 1937 erhielt Oswald Menghin den Ehrendoktortitel der Universität Göttingen. Ein taktischer Schachzug: „Man wollte seine Stellung stärken.“

„Säuberung“ des Uni-Personals und Nazi-Minister

Oswald Menghin publizierte zur Rassenideologie. Schon vor 1938 engagierte er sich für die damals noch illegale NSDAP. Seine Karriere verlief rasch und erfolgreich. Schon als 30-Jähriger erhielt er 1918 den Lehrstuhl für Prähistorische Archäologie an der Uni Wien, 1935 folgte der Rektoratsposten. Mit 50 Jahren war er Unterrichtsminister im „Anschluss“-Kabinett 1938. Im selben Jahr wurden an der Uni Wien mit seiner Unterstützung 42 Prozent des Lehrpersonals entlassen. 31 Prozent aus „rassischen Gründen“. Elf aus politischen. Ein Foto zeigt Oswald Menghin bei der Besichtigung des Konzentrationslagers Gusen. KZ-Häftlinge hatten ein Gräberfeld freigelegt, an dem er forschte.

Flucht und Neubeginn

Mit Kriegsende, so wusste er, drohte ihm Gefahr: Für knapp zwei Jahre sperrte man ihn in US-Internierungslager – allerdings in Deutschland. „Ein Glücksfall für ihn. Denn in Österreich wurde er als Kriegsverbrecher gesucht“, sagt Robert Obermair. Trotz Anträgen österreichischer Behörden wurde Menghin nie an sein Heimatland ausgeliefert. „Der Fokus der USA lag mittlerweile auf dem aufkeimenden Kalten Krieg. Die Verfolgung von Nazi-Verbrechern verlief sich.“ So kam Oswald Menghin frei, konnte dank seiner umfangreichen Netzwerke in Deutschland untertauchen und 1948 mithilfe der katholischen Kirche nach Argentinien fliehen.

Zweite Karriere und Rehabilitierung

„Oswald Menghin blieb bis zuletzt im rechtsextremen Milieu vernetzt“, sagt Robert Obermair. Seine guten Verbindungen halfen ihm auch, eine neue Karriere in seinem Zufluchtsland aufzubauen. An der Universidad de Buenos Aires konnte er seine Forschungen unmittelbar fortsetzen. Bald schon, noch 1948, fühlte Oswald Menghin sich nicht mehr bedroht. 1954 stellte ihm die österreichische Botschaft in Buenos Aires einen Reisepass aus. „Obwohl ihn Österreich gleichzeitig als Kriegsverbrecher suchte!“ 1956 wurde das Verfahren gegen ihn eingestellt. Ab 1957 erhielt er eine österreichische Pension: „Eingerechnet wurde auch seine Zeit als Nazi-Minister“, erklärt Robert Obermair.

Vielfach geehrt, sein Leben lang

Sobald er 1956 begnadigt worden war, erhielt Oswald Menghin Zeit seines Lebens vielfache Würdigungen: Ehrenmitglied der anthropologischen Gesellschaft in Wien, korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften im Ausland, Ehrung zum 50-jährigen Jubiläum seines Doktorats an der Uni Wien. Und laufende Glückwunschschreiben von wissenschaftlichen Einrichtungen. Ab nun kehrte er auch immer wieder privat und beruflich nach Österreich zurück, lebte aufgrund seiner Familie aber hauptsächlich in Argentinien. Dort liegt er seit 1973 in Chivilcoy begraben.

Ein langsam bröckelndes Gedenken

Im Jahr 2007 entdeckte die argentinische Presse, dass das archäologische Museum in der Stadt Chivilcoy nach wie vor nach Menghin benannt war. Wenige Wochen später wurde der Name geändert. Auch ein Hörsaal der Universidad la Plata heißt heute anders. 2014 entzog die Universität Göttingen Oswald Menghin posthum die Ehrendoktorwürde. Und an der Universität Wien wurde sein Name auf der Rektorentafel künstlerisch mit einem Schatten versehen. Gleichzeitig wird Oswald Menghin nach wie vor gewürdigt, etwa in der Bibliothek am Institut für Urgeschichte und Historische Archäologie der Uni Wien. Zeithistoriker Robert Obermair: „Bei meinem letzten Besuch in der Bibliothek vor ein paar Monaten hing sein Porträt dort nach wie vor unkommentiert“.

Zur Person und zum Projekt:

Robert Obermair, geb. 1989, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Universitätsassistent für Public History an der Paris-Lodron-Universität Salzburg. Er forscht unter anderem zu Kontinuitäten und Brüchen im Nationalsozialismus und Austrofaschismus, Wissenschaftsgeschichte, Erinnerungskultur sowie Rechtsextremismus. Seine preisgekrönte Dissertation zu Oswald Menghin erschien 2024 in englischer Sprache im Verlag De Gruyter.

Text: Marlene Groihofer