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Johannes Koll im Interview: Dem Raubgut auf der Spur

Videoaufzeichnung vom 28. November 2023, Vetmeduni

Geduld und Gespür sind bei der sogenannten „Provenienzforschung“ an der WU Wien gefragt. Alte Bücher und Zeitschriften werden dabei unter die Lupe genommen – um zu überprüfen, inwiefern es sich um Nazi-Raubgut handelt. Stellen sie sich als solches heraus, werden sie an die rechtmäßigen Erb:innen übergeben – wenn diese sich finden lassen. Seit 2010 widmet sich die Wirtschaftsuniversität Wien der Aufarbeitung ihrer NS-Geschichte. Die Provenienzforschung bildet dabei einen der Schwerpunkte. Leiter der Provenienzforschung an der WU ist Historiker und Archivar Johannes Koll. Ein Gespräch über Adressverzeichnisse, Allerweltsnamen und die Sensibilisierung für die Vergangenheit.

Vetmeduni: Herr Koll, Sie haben gemeinsam mit Ihrer Mitarbeiterin Regina Zodl schon über 70.000 Bücher und Zeitschriften an der WU Wien „autopsiert“. Das heißt, Sie untersuchen Raubgut der Universität aus der NS-Zeit, um herauszufinden, wem es heute rechtmäßig gehört. Wie viel detektivisches Gespür braucht man dabei?

Wahnsinnig viel. Damit man die heutigen Besitzer:innen ausfindig machen kann, geht es zuerst darum, den Namen der bestohlenen Vorbesitzer:innen zu recherchieren. Ideal ist es, wenn in einem Buch Vor- und Nachname vermerkt sind. Das ist aber höchst selten der Fall. Dann hilft es, wenn wenigstens Namenszüge vorhanden sind, ein Stempel mit oder ohne Adresse oder ein Exlibris (ein Besitzerkennzeichen in Büchern, Anmerkung d. Redaktion).

Und dann?

Sofern sich in einem Buch eines der Provenienzmerkmale findet, beginnt die detektivische Feinarbeit. Historische Adressverzeichnisse können helfen. Ein Glücksmoment ist, wenn man entdeckt, dass ein Vorbesitzer oder eine Vorbesitzerin schon durch Kolleg:innen anderer Bibliotheken oder Museen identifiziert worden ist. Da spart man sich viel Recherchearbeit.

Können Sie auch Datenbanken zu Hilfe nehmen?

Sie sind ein enorm wichtiges Tool für uns, etwa die Opferdatenbanken des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes sowie der Gedenk- und Forschungsstätte Yad Vashem oder genealogische Datenbanken. Kommen wir darüber nicht weiter, wird der Titel eines Buches oder einer Zeitschrift in die Kunstdatenbank des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus eingegeben. Dann hoffen wir, dass sich Nachfahr:innen oder Kolleg:innen melden. Über die Kunstdatenbank kamen wir 2019 mit einer Urenkelin eines Besitzers in Kontakt. Ein Glück, denn im Buch ihres Urgroßvaters war als Name nur „S. Mayer“ vermerkt. Es gibt natürlich wahnsinnig viele Personen, die hinter „S. Mayer“ stecken können.

Woher wissen Sie überhaupt, dass bestimmte Bücher und Zeitschriften der heutigen WU Nazi-Raubgut sind?

Klare Hinweise darauf sind, wenn wir einen Vorbesitzer:innenvermerk haben und zusätzlich herausfinden, dass die betreffende Person Opfer der Shoah wurde. Auch Bibliotheksinventare und Eingangsbestätigungen sind aufschlussreich. Oder die Info, dass Bücher etwa durch die „Vugesta - die Verwaltungsstelle für jüdisches Umzugsgut der Gestapo“ direkt an die Uni geliefert wurden, ebenso auch über Zwischeninstanzen wie das Dorotheum oder ein Antiquariat.

Das heißt, manchmal ist die Sache ganz eindeutig?

Nehmen wir etwa den jüdischen Chemiker Leopold Singer. Warum sollte er 1938 irgendeinen Grund gehabt haben, der nazifizierten Hochschule für Welthandel freiwillig seine beachtliche Bibliothek zu übergeben? Zufällig passte seine Sammlung zu „Erdgas und Erdöl“ auch hervorragend zum Themenfeld des damaligen Hochschulprofessors und glühenden Nationalsozialisten Ernst Beutel.

Warum landeten so viele geraubte Bücher gerade an der Hochschule für Welthandel, der heutigen Wirtschaftsuniversität Wien?

Das NS-Regime hat geraubtes Gut laufend öffentlichen Einrichtungen angeboten. Dabei spielte die heutige WU keine besondere Rolle, da haben alle Unis zugeschlagen. Auch Museen bedienten sich fleißig an Sammlungen.

Klares Ziel der Provenienzforschung ist es, Raubgut an rechtmäßige Erb:innen zurückzugeben. Wie erfolgreich waren Sie dabei bisher?

Bisher konnten wir acht Restitutionen durchführen und jede einzelne ist ein großer Erfolg. Der bisher größte war wohl 2015 die Rückgabe von 700 Monographien des schon erwähnten jüdischen Chemikers Leopold Singer. Auf Wunsch seiner Erb:innen aus Israel befinden sich die Bücher mittlerweile in der Dauerausstellung des Technischen Museums Wien.

Einiges an Raubgut wird möglicherweise nie rückerstattet werden können, weil es gar nicht mehr vorhanden ist. Die WU besitzt erst seit 2015 ein Uni-Archiv. War Verschleierung mit ein Grund für die späte Gründung eines Archivs?

Das lässt sich nicht nachweisen, aber auch nicht ausschließen. Die WU ist in ihrer Geschichte schon drei Mal umgezogen. Bei jedem Umzug wurde sehr viel Material entsorgt. Das betrifft sowohl Bibliotheksbestände als auch Archivmaterialien. Hinzu kommt, dass die WU als fachlich ausgerichtete Hochschule vor allem Gegenwart und Zukunft priorisiert. Das Gespür für die Bedeutung der eigenen Geschichte war lange nicht besonders ausgeprägt.

Lässt sich rückblickend bewerten: Wie nationalsozialistisch war die heutige WU während des Zweiten Weltkriegs – auf einer Skala von 1 bis 10?

Um die Hochschule für Welthandel auf einer Skala zu lancieren ist die Forschungslage zu unklar, etwa auch zu Widerstand oder zu jenem „Mittelfeld“, das sich zwischen Widerstand und überzeugten Nationalsozialisten auftat. Fest steht, dass die heutige WU schon vor dem „Anschluss“ eine klar profaschistische Signatur hatte. Die genuine nationalsozialistische Gruppierung war an der Hochschule wirklich auf Kurs.

Nicht nur Provenienzforschung ist heute Teil der Erinnerungskultur der WU Wien. Dem NS-Mittäter Walther Kastner wurde sein Ehrendoktorat aberkannt. Es gibt ein Online-Gedenkbuch für verfolgte und vertriebene Uni-Angehörige. Auch ein Denkmal auf dem Campus trägt ihre Namen. Was lässt sich mit guter Erinnerungsarbeit erreichen?

Sensibilisierung und Aufklärung. Viele Menschen haben heute gar kein Interesse mehr an der Vergangenheit. Das wäre aber wichtig. Auch, um den Kontrast zu sehen, zwischen den Bedingungen einer NS-Herrschaft und einer freien demokratischen Gesellschaft. Diese Kontrastdarstellungen sind eine Aufgabe, die Geschichte zu leisten hat. Und da können wir eine Menge dazu beitragen.

Zur Person:

Johannes Koll, geboren 1964, ist seit 2015 Senior Scientist am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie Leiter des Universitätsarchivs der Wirtschaftsuniversität Wien. Er forscht unter anderem zu Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte sowie zu den Themenfeldern Nationalsozialismus, Drittes Reich und Zweiter Weltkrieg, ebenso zählt Biographik zu seinen Schwerpunkten.

Text und Interview: Marlene Groihofer