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Lisa Rettl: „Erinnern macht einen Unterschied“

Videoaufzeichnung von Lisa Rettl vom 10. Oktober 2023, Vetmeduni

Lisa Rettl hat sich intensiv mit den Biographien vertriebener jüdischer Studenten beschäftigt. 

Ab dem Jahr 2014 war Lisa Rettl samt Team in den Archiven der Vetmeduni unterwegs. Das Ziel: die Aufarbeitung der Geschichte der Uni während des Nationalsozialismus. „Das hat an der Vetmeduni für gemischte Gefühle gesorgt“, erinnert sich Lisa Rettl, „manche sprachen von Nestbeschmutzung. Andere haben sich über das Projekt gefreut.“ Ursprünglich hieß es außerdem, dass man kaum Material finden werde: „Das Gegenteil war der Fall.“ Die Historikerin stieß auf fast vollständig erhaltene Rektoratsakten. Außerdem war die sogenannte „Studentennationale“ eine wichtige Quelle, ein Verzeichnis, das die Studierenden damals jedes Semester bei ihrer Inskription ausfüllen mussten.

Material für gleich zwei Bücher

Bald schon zeigte sich: Statt wie geplant ein Buch sollten zwei Bücher aus dem Projekt entstehen. Eines, das die Universitätsgeschichte der Vetmeduni in der NS-Zeit allgemein in den Blick nimmt. Und eines, das den Biografien jüdischer Studierender in diesen Jahren gewidmet ist. Den Menschen von damals Name und Geschichten geben – das war Lisa Rettl wichtig: „Denn in der Geschichte geht es nie um Jahreszahlen. Es geht immer um Menschen.“ Um Männer, Frauen und Kinder, die unter bestimmten Rahmenbedingungen in ihrem jeweiligen Mikrokosmos Entscheidungen treffen: „Aus der Summe entstehen Dynamiken auf der Makroebene der Gesellschaft - und das, was wir Geschichte nennen.“

Schon vor dem „Anschluss“ antisemitisch

Fest steht: Die Wiener Tierärztliche Hochschule, die heutige Vetmeduni, war bereits in den Jahren vor dem März 1938 nationalsozialistisch geprägt. „Der ‚Anschluss‘ 1938 war kein Anfangspunkt. Er war der Endpunkt einer Entwicklung – auch an der Wiener Tierärztlichen Hochschule“, sagt Lisa Rettl. Ab 1931 hatte der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund die absolute Mehrheit in der Studentenvertretung. Und: „Die Rektoren haben die nationalsozialistischen Studenten massiv unterstützt.“

Im Jahr 1914/15 betrug der Anteil jüdischer Studierender an der heutigen Vetmeduni noch 5,7 Prozent. Nur noch 0,3 Prozent waren im Sommersemester 1938 inskribiert. Im November 1938 wurde der letzte verbliebene jüdische Student, Wilhelm Marbach, von der Universität ausgeschlossen. Ob auch jüdisches Lehrpersonal entlassen wurde? „Das war, wie es scheint, gar nicht nötig“, sagt Lisa Rettl, „der Antisemitismus war hier im Haus so massiv, dass man gar keine jüdischen Professoren eingestellt hatte.“

Übergriffe und Attacken

So hat es etwa schon in den Jahren vor dem „Anschluss“ Angriffe auf jüdische Studierende auf dem Uni-Campus gegeben, auch körperliche. In solcherlei Ausmaß, dass jüdische Studierende die Wiener Tierärztliche Hochschule nur unter Polizeischutz verlassen konnten. Der Altherrenverband der zionistischen jüdischen Studentenverbindungen beschwerte sich im Jahr 1930 beim damaligen Rektor Carl Schwarz-Wendl über „die „Verfemung und demütige Behandlung des zionistisch gesinnten Teils der Studentenschaft“. Die Reaktion des Rektorats? „Nichts. Man hat dafür gesorgt, dass jüdische Studierende noch ‚unsichtbarer‘ im universitären Leben gemacht wurden“, sagt Lisa Rettl.

Dass es überhaupt schlagende jüdische Studentenverbindungen in Wien gab, auch an der Wiener Tierärztlichen Hochschule, hatte bereits mit einem tief verwurzelten Antisemitismus zu tun. An der Universität Wien wurde jüdischen Studierenden 1896 die „Satisfaktionsfähigkeit aufgrund von Ehrlosigkeit und Charakterlosigkeit“ abgesprochen. „Daraufhin kam es in Wien zu Protesten und zur Gründung zahlreicher jüdischer Verbindungen“, erklärt Lisa Rettl: „Ursprünglich hatte die jüdische Community eigentlich kein großes Interesse an Burschenschaften.“

Die Geschichte des Karl Weininger

1893 entstand so auch UNITAS, eine jüdische Studentenverbindung an der Wiener Tierärztlichen Hochschule. 1938 wurde sie verboten – wie alle anderen jüdischen Vereine und Verbindungen. Mitglied darin war auch der jüdische Student Karl Weininger. Er ist einer von 42 jüdischen Studierenden, deren Biografie die Historikerin Lisa Rettl im Rahmen ihrer Erinnerungsarbeit recherchiert hat: 

Karl Weininger ist nahe Czernowitz, in der heutigen Ukraine und damaligen Habsburgermonarchie, geboren. Von 1929 bis 1935 studierte er an der Wiener Tierärztlichen Hochschule Veterinärmedizin und erlebte hier bereits antisemitische Übergriffe mit. Nach seinem Studium wurde er von Rumänien aus ins Ghetto Olgopol in Transnistrien deportiert, das er überlebte. 1962 emigrierte Karl Weininger mit seiner Familie nach Israel und war dort noch 16 Jahre lang als Tierarzt tätig. „Viele der jüdischen Studierenden erlebten Flucht und Deportation. Nicht wenige verloren im Holocaust ihr Leben. Einige Biographien konnten wir detailliert nachverfolgen, bei anderen verliert sich die Spur“, sagt Lisa Rettl. Im Fall von Karl Weininger hat die Erinnerungsarbeit sogar in die Jetzt-Zeit geführt: zu seinem Enkelsohn nach Israel. Roy Schwartz hat 2021 online nach dem Namen seines Großvaters gesucht. Zufällig entdeckte er dabei Lisa Rettls Buch über jüdische Studierende der Veterinärmedizin. Inzwischen hat Roy Schwartz der Vetmeduni sogar einen Besuch abgestattet. Und er wurde als Nachkomme eines NS-Verfolgten mittlerweile zum österreichischen Staatsbürger.

„Erinnern macht einen Unterschied“

Entwicklungen wie diese sind es, die Lisa Rettl bestätigen: „An Geschichte muss man sich mit immer neuen Fragen immer neu annähern.“ Es sei schön, wenn die eigene Forschung Menschen erreiche und Lebenswege beeinflusse – wie jenen des Weininger-Enkels Roy Schwartz. Das zeige ganz besonders: „Es macht einen Unterschied, ob eine Institution sich erinnert.“

Zum Projekt:

In vierjähriger Forschungsarbeit hat sich ein dreiköpfiges Team rund um die Historikerin Lisa Rettl der Aufarbeitung der NS-Zeit an der Vetmeduni gewidmet, initiiert vom Rektorat aus Anlass des 250-Jahre- Jubiläums der Vetmeduni 2015. Im Wallstein-Verlag sind erschienen: „Die Wiener Tierärztliche Hochschule und der Nationalsozialismus“ und „Jüdische Studierende und Absolventen der Wiener Tierärztlichen Hochschule 1930 – 1947“.

 

Zur Person:

Lisa Rettl, geb. 1972, arbeitet als freischaffende Historikerin, Ausstellungskuratorin und Biografin in Wien und Kärnten Für ihre Arbeiten wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Im November 2023 erhält sie den Vinzenz Rizzi-Preis „für zukunftsweisende Initiativen auf dem Gebiet der interkulturellen Verständigung“.

Text: Marlene Groihofer