Sie wehte gut sichtbar im Zentrum der Stadt. Schon im Februar 1938, Wochen vor dem „Anschluss“ wurde eine Hakenkreuzfahne am Grazer Rathaus montiert. Gleichzeitig wurde die Universität Graz von Nazi-Studierenden besetzt. Zu diesem Zeitpunkt war das universitäre Leben in Graz bereits seit Jahren faschistisch geprägt. „Studierende waren lange wichtige Faktoren im Untergrund“, erklärt Historiker Marco Jandl, Projektmitarbeiter am Centrum für Jüdische Studien an der Universität Graz. „Als ab 1933 in Österreich jegliche NS-Betätigung verboten war, engagierten Student:innen sich gemeinsam mit Lehrpersonal illegal.“Mit Propagandaaktivitäten, mit Terror gegen politisch Andersdenkende und jüdische Uni-Angehörige sorgten Nazi-Studierende schon vor dem Zweiten Weltkrieg für Unruhen. Ab 1938 folgte unter dem NS-System die offizielle Gleichschaltung der Universitäten.
Jahrzehnte des Vertuschens
So laut die überzeugten Grazer Nationalsozialist:innen vor und während des Zweiten Weltkriegs auftraten, so leise wurden sie nach Kriegsende: „Mit 1945 versuchte man an der Universität Graz, alle Spuren von Mittäterschaft und Mitverantwortung zu beseitigen“, sagt Historiker Marco Jandl. NS-Akten wurden zerstört, einschlägige Literatur von Lehrenden wurde umgearbeitet oder verschwand. In Lehrveranstaltungstiteln ersetzte man das Wörtchen „deutsch“ wieder durch „österreichisch“. Außerdem hängte man Porträts der NS-Rektoren ab und der Appellplatz vor der Uni wurde wieder rückgebaut. Auch eine Statue wurde aus der Aula der Universität Graz entfernt. 1895 war eine Skulptur von Kaiser Franz Joseph aufgestellt worden. Die Nazis hatten diese durch eine Hitlerbüste ersetzt. Nach 1945 ließ man Hitler wieder verschwinden – und Kaiser Franz Joseph kehrte an seinen Platz zurück. „Das beschreibt den damaligen Zeitgeist sehr gut“, sagt Marco Jandl, „anstatt sich vorwärtszubewegen, stellte man den absolutistischen Kaiser wieder auf.“ In der Folge versuchte man, die NS-Zeit inhaltlich zu marginalisieren, erklärt Marco Jandl: „Was sind schon diese sieben Jahre angesichts unserer über 350 Jahre währenden Geschichte, sagte man sich! Gleichzeitig wirkte die NS-Ideologie in vielen Aspekten weiter.“ Man fing an, die 1930er Jahre als wissenschaftliche Blütezeit zu verklären. Plötzlich wurden die Nobelpreisträger Victor Hess, Erwin Schrödinger und Otto Loewi als ehemalige Lehrende gefeiert. Dass sie 1938 vertrieben worden waren, verdrängte man.
Eklat und Start der Aufarbeitung
Erst mehr als 40 Jahre nach Kriegsbeginn kam es an der Universität Graz zu einem Ende des offiziellen Schweigens. Auslöser war eine Gedenktafel anlässlich des 400-jährigen Uni-Jubiläums 1985, die zu einer heftigen Kontroverse führte. Der Grund für den Eklat: Es handelte sich bei der Tafel um ein Geschenk des Dachverbandes der deutschnationalen Studentenverbindungen. Auf den ersten Blick war die Gedenkplatte Opfern des NS-Regimes gewidmet: „In Wirklichkeit aber stellten sich die deutschnationalen Studierenden darauf selbst als Opfer dar – als Leidtragende des Austrofaschismus, dann der Wehrmacht und schließlich der Alliierten.“ Und das obwohl zwei ihrer Mitglieder wegen Kriegsverbrechen gar zum Tode verurteilt worden waren. „Von da an begann an der Uni Graz durch Studierende und Assistent:innen die Aufarbeitung.“ Eine erste kritische schriftliche Publikation erschien 1985, damals noch ohne die Unterstützung der Universität. „Man verwehrte den Autor:innen für ihre Arbeit auch den Zugang zu allen relevanten Quellen im Uni-Archiv“, erzählt Marco Jandl. Mit dem „Bedenkjahr“ 1988 aber entschied sich die Uni offiziell für eine wissenschaftliche, symbolische und künstlerische Form der Erinnerungskultur. „Man wollte den Ruf als reaktionäre Hochburg loswerden, auch im Sinne des internationalen Wettbewerbs.“ Ebenfalls noch 1988 bekannte sich der damalige Rektor Christian Brünner zum ersten Mal dezidiert zur Mitverantwortung der Universität im Nationalsozialismus. Man lud vertriebene jüdische Studierende ein, ihre Promotion zu erneuern. 1938 war sie ihnen nur „still“ erlaubt worden – und eine Feier verboten.
Fresken mit Symbolcharakter
„Sie müssen sich das anschauen!“, wurde einige Jahre später, 1997, Rektor Helmut Konrad, auf eine Baustelle in die Schubertgasse 6 geholt. Im damaligen Gebäude der Österreichischen Hochschülerschaft waren bei Bauarbeiten per Zufall Hakenkreuze an der Wand freigelegt worden. Auch Bilder kampfbereiter, triumphierender und fahnenschwingender NS-Studierender kamen zum Vorschein. Es handelte sich um zwei Fresken des regionalen Künstlers Franz Köck. „Nach 1945 hatte man sie als belastenden Beleg einfach übermalt “, sagt Historiker Marco Jandl. Diesmal entschied man sich für eine offizielle Gedenkaktion: In Zusammenarbeit von Medienkünstler Richard Kriesche und dem damaligen Rektor Helmut Konrad wurden Glasplatten über die Fresken montiert und mit mahnendem Text überschrieben. „Man wollte mit der NS-Programmatik brechen, sie aber nicht verstecken.“ 2021 wurde das Gebäude erneut umgebaut. Plötzlich war die Nazi-Kunst prominenter als je zuvor im Stiegenhaus zu sehen. „Der Denkmalschutz aber erlaubt keine Veränderung daran“, sagt Marco Jandl. Man entschied sich für eine weitere künstlerische Intervention, diesmal rund um die Fresken: Elisabeth Schmirl schuf ein „Bekenntnis zu gelebter Vielfalt, Demokratie und Diversität“.
Eine Homepage als neue Form der Gedenkkultur
Mittlerweile wurde an der Universität Graz noch eine zusätzliche Form des Gedenkens etabliert: 2023 startete die Uni einen digitalen Erinnerungsraum. Historiker Marco Jandl vom Centrum für Jüdische Studien hat die Webseite „UniGraz_1585–tomorrow“ erarbeitet. Sie führt von der Gründung der Universität bis in die jüngste Vergangenheit. Ein Schwerpunkt liegt auf der NS-Zeit. Vor allem ist die Webseite für nicht-wissenschaftliches Publikum gedacht. Homepagenutzende können sich auf einer interaktiven Karte zu historischen Schauplätzen am Campus und in der Stadt bewegen und nachlesen: zu Statuen, Denkmälern oder Hörsaal-Umbenennungen und ihrer Geschichte. Im Herbst 2023 wurden an der Uni Graz etwa offline Stolpersteine für vertriebene Studierende und Lehrende verlegt – online kann man die Biografien dazu einsehen. Letztere bilden auch einen Schwerpunkt der Webseite. Es gibt Einblicke in die Lebensgeschichten von Opfern und auch Tätern des NS-Regimes. Ebenso kann man nachschauen, wer damals mit wem verwandt oder bekannt war. Das kann besonders für Nachfahr:innen der Porträtierten von Relevanz sein. „UniGraz_1585–tomorrow“ ist ein Erinnerungsraum, der gezielt „offen“ bleiben soll und „unabgeschlossen“. Einer, an dem jeder und jede teilhaben kann.
Zur Person:
Marco Jandl, geboren 1989, ist Historiker und Projektmitarbeiter am Centrum für Jüdische Studien an der Universität Graz. Seine Forschungsschwerpunkte sind Universitätsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, Nationalsozialismus in der Steiermark, Flucht und Vertreibung, Digital Public History und Erinnerungskultur. Derzeit forscht er im Zuge des Projektes „Vertriebene WissenschaftlerInnen und Studierende der Universität Graz 1938“.
Text: Marlene Groihofer