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Herwig Czech: Alles für den "Volkskörper"

Videoaufzeichnung vom 5. Dezember 2023, Vetmeduni

 

Sie hatten sich um den „Volkskörper“ zu kümmern. Gesund sollte er sein, „rein“ und „deutsch“. Davon waren viele Mediziner:innen zur Zeit des NS-Regimes auch selbst überzeugt: „In keinem anderen Berufsstand fanden sich im Zweiten Weltkrieg so viele NS-Anhänger:innen wie unter den Ärzten“, sagt Medizinhistoriker Herwig Czech, Professor an der MedUni Wien. Tatsächlich waren in Österreich 60 Prozent der Mediziner:innen zwischen 1938 und 1945 NSDAP-Mitglied oder schlossen sich dem nationalsozialistischen deutschen Ärztebund an. 18 Prozent der männlichen Ärzte waren bei der SA und acht Prozent bei der SS. Zwölf Prozent der Ärztinnen traten der NS-Frauenschaft bei.

Kein klassisches Arzt-Patientenverhältnis

 „Mediziner:innen sollten unter dem NS-Regime in alle Lebensbereiche eingreifen und auch ideologische Ideen transportieren“, erklärt Herwig Czech: „Sie wurden mit einer Deutungsmacht versehen, wie sie bis dahin zum Beispiel Priestern zugeschrieben worden war.“ Ärzt:innen waren in Zwangssterilisationen involviert, forschten an wehrlosen Gefangenen, Kranken oder Menschen mit Behinderungen. Sie waren aktiv in die NS-Tötungsmaschinerie eingebunden. Jahrzehntelang war die Rassenideologie im Feld der Medizin akademisch vorbereitet und verbreitet worden. Ab Anfang der 1930er Jahre kam sie im „Dritten Reich“ nun zur Anwendung.

Jüdische Ärzt:innen gab es nicht mehr

Jüdische Mediziner durften im heutigen Österreich ab 1938 nicht mehr praktizieren. In Wien hatten sie bis dahin den Großteil der Berufsgruppe ausgemacht. Nach ihrem Berufsverbot fehlten in der Stadt  zwei Drittel der gesamten Ärzte. „Der Arztjob war für manche Juden und später auch Jüdinnen noch eine Möglichkeit gewesen, trotz Diskriminierungen einen sozialen Aufstieg zu schaffen“, sagt Historiker Herwig Czech. Wenige jüdische Ärzte durften nach dem „Anschluss“ weiterarbeiten, allerdings ohne sich Arzt zu nennen. „Sie mussten sich als ‚Krankenbehandler‘ bezeichnen und durften nur jüdische Patient:innen versorgen.“

Medizinische Fakultät der Uni Wien vertrieb Studierende und Lehrende

An der medizinischen Fakultät der Universität Wien vertrieb man 1938 über 1.000 jüdische Studierende. 50 Prozent der Habilitierten wurden aufgrund ihrer jüdischen Wurzeln entfernt. Davor schon waren sie jahrelang verfolgt worden. „Die Uni war bereits vor 1938 eine politische Kampfzone“, sagt Historiker Herwig Czech. Ein Foto von 1933 zeigt, wie jüdische und linke Uni-Angehörige das Anatomische Institut der medizinischen Fakultät verlassen. Sie flüchteten vor Angriffen durch Rechtsradikale über Holzleitern durch die Fenster.

Uni-Verbrechen im Namen der Rassenhygiene

Von der Rassenlehre über verbrecherische Forschung bis zu Tötungen: Die medizinische Fakultät der Universität Wien war auf vielfältige Weise ins NS-System involviert. 1942 nahm das neue „Rassenbiologische Institut“ seine Arbeit auf. An den Universitätskliniken der heutigen MedUni Wien wurden Zwangssterilisationen durchgeführt. „Offiziell und wissenschaftlich untermauert“, so Historiker Herwig Czech. Hans Eppinger jun., einst Direktor der Wiener I. medizinischen Universitätsklinik, und sein Assistent Wilhelm Beiglböck, missbrauchten Gefangene des KZ Dachau für Meereswasser-Trinkversuche. Arzt Emil Gelny entwickelte dank seiner Lehr-Zeit auf der psychiatrischen Abteilung einen Elektroschockapparat als Tötungsmaschine für psychisch kranke  Patient:innen. Kam in der Uniklinik ein Kind mit Behinderung zur Welt, erstattete das Personal behördliche Meldung – im Wissen, dass das den Tod des Babys bedeuten konnte. Missgebildete Kinder wurden für Mangelernährungsversuche missbraucht.

Eine enge Kooperation hatte die Kinderklinik der Universität Wien mit der Wiener „Kinderfachabteilung“ am „Spiegelgrund“ in der Heil- und Pflegeanstalt „Am Steinhof“. 800 kranke und behinderte Kinder wurden dort zwischen 1940 und 1945 im Rahmen einer reichsweiten Kindertötungsaktion – verharmlosend als „Kindereuthanasie“ bezeichnet – ermordet. Ärzt:innen der Universität Wien überwiesen Kinder mit Behinderungen von der Kinderklinik auf den Spiegelgrund und führten Tuberkulose-Impfstoff-Versuche an ihnen durch. Das Institut für Anatomie erhielt für Lehre und Forschung bis zu 1.300 Leichen – hingerichtete Opfer der NS-Justiz. Präparate, die aus den menschlichen Überresten der Spiegelgrund-Opfer gewonnen wurden, nutzte man im Rahmen eines Ludwig-Boltzmann-Instituts am ehemaligen Steinhof noch bis in die 1980er Jahre für Forschungszwecke.

Kein großer Knall

Die Aufarbeitung nach 1945 blieb aus. „Eine echte Entnazifizierung hätte in Österreich den Zusammenbruch des Gesundheitssystems bedeutet“, sagt Historiker Herwig Czech. Denn mit Kriegsende waren  die meisten Mediziner:innen politisch belastet. 1948/49 waren in der Steiermark neunzig Prozent der Ärzt:innen als „Ehemalige“ registriert, in Oberösterreich 60 Prozent und in Wien 55 Prozent. Versuche, jüdische Vertriebene in den ärztlichen Beruf zurückzuholen, wurden nicht unternommen. Zwar entließ man unter Führung der Alliierten mit Kriegsende kurzfristig 75 Prozent der Professor:innen der medizinischen Fakultät. „In den Jahren darauf aber konnten fast alle ihre Karrieren fortsetzen“, so Herwig Czech. Die juristische Aufarbeitung blieb lückenhaft. Selbst für schwer Belastete gab es teils Sonderregelungen, die sie vor der Justiz schützten.

Woher stammten die Leichen? Beginn einer Auseinandersetzung

Es war ein medizinisches Werk, das Ende der 1990er Jahre einen wichtigen Impuls zur Aufarbeitung der NS-Zeit an der heutigen MedUni Wien gab: Der anatomischer Atlas des ehemaligen Uni Wien-Rektors Eduard Pernkopf. Der Autor war zu diesem Zeitpunkt längst verstorben, sein Werk ein weltweiter Klassiker der anatomischen Darstellung. Versteckte Hakenkreuze und mutmaßliche SS-Runen in den Signaturen führten schließlich zur Frage, woher Pernkopfs Leichen für die detailreichen anatomischen Zeichnungen eigentlich gestammt hatten. Eine Untersuchungskommission der Uni wurde installiert: Pernkopf hatte mit Todesopfern der NS-Unrechtsjustiz und der Gestapo gearbeitet.

Die MedUni Wien und ihre Aufarbeitung

„Der Forschungsbericht zum Pernkopf-Atlas von 1998 war ein wichtiger Schritt“, sagt Herwig Czech. Der Verlag stellte die Produktion des Werks ein. Im Zuge des Projekts durchsuchte man  auch die Sammlungen der Kliniken und Institute der medizinischen Fakultät nach menschlichen Überresten aus der NS-Zeit. Noch vorhandene wurden beerdigt. Seit 2004 ist die MedUni Wien eine eigenständige Universität. Erinnerungskultur wird heute an beiden Universitäten gepflegt. Ein Denkmal vor dem Rektorat der MedUni erinnert an vertriebene jüdische Studierende. Es gibt Ausstellungen, Projekte oder die Verleihung von Ehrendoktorwürden an ehemalige NS-Opfer. Die Zahnklinik wurde nach Bernhard Gottlieb, einem Vertriebenen der Uni, benannt.  Eine Lecture heißt nach der vertriebenen Regine Kapeller-Adler, der Erfinderin des Schwangerschaftstest. Das „Josephinum“ beherbergt als Teil der Medizinischen Universität Wien heute das Museum für Medizingeschichte, den UNESCO-Lehrstuhl für Bioethik sowie die Professur für Geschichte der Medizin. Ihr Schwerpunkt liegt seit der Gründung der MedUni Wien vor 20 Jahren auf der medizinischen Zeitgeschichte. Medizinhistoriker Herwig Czech wünscht sich die NS-Vergangenheit für österreichische Medizin-Studierende künftig als Pflichtlehrveranstaltung: „In Deutschland ist das bereits der Fall.“ Denn die von ethischen Entgrenzungen  gezeichnete Uni-Geschichte des 20. Jahrhunderts prägt bis heute. Vor dem Zweiten Weltkrieg war die medizinische Fakultät der Universität  Wien ein internationales Zentrum der Wissenschaft. Eine Position, die ihr danach für viele Jahrzehnte verlorenging.

Zur Person:

Herwig Czech, geboren 1974, ist Professor für Geschichte der Medizin an der Medizinischen Universität Wien. Die NS-Zeit zählt zu seinen Schwerpunkten. Er ist Ko-Projektleiter eines  von der Max-Planck-Gesellschaft finanzierten Projekts zur „Hirnforschung an Instituten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Kontext nationalsozialistischer Unrechtstaten“. Er ist außerdem Co-Chair der „Lancet Commission on medicine, Nazism and the Holocaust“.

Text: Marlene Groihofer