Es war der Grundriss, der ihr ungewöhnlich erschien. 1998 wurde Künstlerin Minna Antova beim Spazierengehen auf ein Gebäude aufmerksam, das von außen unscheinbar und grau wirkte. Auf ein Transformatorhäuschen im Wiener Alten AKH, dem heutigen Campus der Universität Wien. Es stellte sich heraus: Das achteckige Bauwerk, das jahrzehntelang für die Stromversorgung genutzt wurde, war einst ein jüdischer Betpavillon. „Der Pavillon war nach dem Zweiten Weltkrieg von allen Stadtplänen verschwunden“, sagt Minna Antova. Die Künstlerin fing an, nachzuforschen. Und sie begann Entwürfe anzufertigen. Mit dem Ziel, das „vergewaltigte Gebäude“ zu einem „Denk-Ort“ zu machen.
Eine Synagoge des Architekten Max Fleischer
Der jüdische Betpavillion, der in einem der grünen Innenhöfe des Campus im neunten Bezirk liegt, stammt aus dem Jahr 1903. Er war einst für Patient:innen und das Krankenhauspersonal des Wiener Allgemeinen Krankenhauses gedacht. Entworfen hat ihn der jüdische Architekt Max Fleischer. „Insgesamt acht Synagogen in Österreich und Tschechien stammten von Max Fleischer, neogotisch und imposant“, sagt Minna Antova. Der kleine Pavillon im damaligen Wiener AKH war der Größe nach der unbedeutendste Bau des Architekten. Er ist jedoch die einzige seiner Synagogen, die noch existiert.
Erst Gebetshaus, dann Lager und Transformator
Jahrzehntelang wurde der jüdische Betpavillon ab 1938 zweckentfremdet. In der Reichskristallnacht devastierten die Nationalsozialisten den Raum. Das Gebäude selbst blieb erhalten – wohl weil man befürchtete, bei einem Brand könnte auch das angrenzende Spital Feuer fangen. Die Nazis nutzten den Pavillon fortan als Lager. „Richtig zerstört wurde das Gebetshaus aber erst im Nachkriegsösterreich“, sagt Minna Antova. Nach dem Krieg wurde der Pavillon ab 1953 nämlich zur Transformatorstation für die Stromspeisung des sogenannten „Narrenturms“ umgebaut. Wo einst die Thora-Nische war, befand sich bis Anfang der 2000er-Jahre der Niederstrombereich.
Durch haptische Erfahrung zum Fühlen
„DENK-MAL Marpe Lanefesch“ heißt das ehemalige Gebetshaus heute, auf Hebräisch: „Heilung für die Seele“. Von 1998 bis 2006 arbeitete Minna Antova daran, die Baureste des Synagogen-Pavillons zu einem Ort der Erinnerung zu machen. Um nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, was er einst war: Ein Ort des Gebets im Wiener Allgemeinen Krankenhaus. Betritt man das Gebäude heute, so bewegt man sich auf Glas. Drei „Zeit-Schichten“ bilden den Boden und erzählen die Geschichte des Pavillons: Ins Glas eingearbeitet sind ein Plan des Bethauses, ein Schreiben der Gestapo vom 10. November 1938 und ein Plan des Transformatorraums. „Geht man über die Schichten, so erzeugt das Unbehagen“, sagt Minna Antova, „man hat Angst, dass das Glas bricht“. Auch jene Teile des Pavillons, die zerstört wurden – die Thora-Nische, der Vorbau und das Dach – wurden mit Glas rekonstruiert. „Dadurch fühlt man sich ungeschützt“, sagt Minna Antova, „man erlebt eine haptische Erfahrung der Leere und der Abwesenheit.“ Fresken an den Wänden symbolisieren zerrissene Thora-Rollen. Wer den Weg vor dem Pavillon entlanggeht, schreitet auf Text, der von den historischen Eckdaten des Gebäudes handelt, auf Deutsch, Hebräisch und Englisch.
Gedenktafeln und Fakten reichen nicht
Minna Antova hält nicht viel von „üblichen“ Denkmälern und Gedenktafeln: „Es heißt, ein Denkmal wird in seiner Existenz zwei Mal gesehen. Einmal bei seiner Errichtung, einmal bei seiner Zerstörung.“ Die Künstlerin befindet die Haptik und das körperliche Erleben von Erinnerungs-Orten für essentiell. Dadurch komme es zu einem Einfühlen: „Wir müssen sinnlich berührt werden, damit wir zu intellektueller Erkenntnis kommen. Nur so kann Solidarität entstehen.“
Erinnerung muss gepflegt werden
In jedem Fall müsse man sich dem Gedenken immer wieder und immer wieder neu annähern: „Erinnerungsarbeit braucht, Mut, Neugierde und Ausdauer“. Man müsse dran bleiben. „Sonst können gesellschaftliche Traumata nicht vernarben.“
Zum Projekt:
Am heutigen Campus der Uni Wien im Alten AKH wurde 1903 nach Plänen von Max Fleischer ein jüdischer Betpavillon errichtet. 1938 wurde dieser von den Nazis geschändet und nach dem Krieg bis Anfang der 2000er-Jahre als Transformatorhaus genutzt. Seit 2006 ist DENK-MAL Marpe Lanefesch ein Gedenkort. Für Konzeption und künstlerische Umsetzung zeichnete Minna Antova verantwortlich. Weitere Infos zum DENK-MAL.
Zur Person:
Minna Antova ist bildende Künstlerin und Kuratorin. Sie schöpft in ihrem Werk aus der Auseinandersetzung mit Gegenwarts- Phänomenen + Zukunftsvisionen, und forscht, arbeitet und realisiert zu Akkulturation, Kulturtransfer, Konstruktion/Dekonstruktion von kulturellem Gedächtnis im Öffentlichen Raum und Raum/Körper-Wahrnehmung.
Text: Marlene Groihofer