06.09.2024: Internationales Forschungsteam unter Beteiligung der Vetmeduni wies mehr als 120 organische Mikroschadstoffe nach und untersuchte deren Rolle bei der Schädigung aquatischer Organismen.
Es waren die Bilder des Sommers 2022: Tonnenweise trieben tote Fische, Muscheln und Schnecken Anfang August auf der Oder. Bald war klar, was als Auslöser der Umweltkatastrophe des deutsch-polnischen Grenzflusses galt: Eine Mischung aus überhöhtem Salzgehalt, hohen Wassertemperaturen, niedrigem Wasserstand und zu hohen Einträgen von Nährstoffen und Abwasser löste eine Blüte der Brackwasseralge Prymnesium parvum aus, deren Algentoxin Prymnesin auf Organismen tödlich wirkt. Ein vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) koordiniertes Wissenschaftsteam sammelte damals Wasserproben und analysierte sie. Das Ergebnis: Hohe Konzentrationen organischer Mikroschadstoffe haben die tödlichen Auswirkungen von Prymnesin verstärkt, schreiben die Forschenden in der Fachzeitschrift Nature Water.
Die Umweltkatastrophe im Sommer 2022 führte dazu, dass in der Oder bis zu 60 Prozent der Fische sowie je bis zu 85 Prozent der Muscheln und Schnecken verendete. Das UFZ hatte deswegen im August 2022 eine interdisziplinäre Ad-hoc-Arbeitsgruppe gemeinsam mit Forschenden des Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB), der Veterinärmedizinischen Universität Wien (Vetmeduni) und der University of Birmingham aufgestellt. Sie nahmen an fünf Standorten entlang der Oder Wasserproben, extrahierten vergiftete Fische und analysierten und evaluierten die Proben. "Ziel der Studie war es herauszufinden, welche Mikroschadstoffe in der Oder sind, wie sich diese auf aquatische Organismen im Fluss auswirken und welche Bedrohung der Cocktail von Algentoxinen und Mikroschadstoffen auf den Menschen haben könnte", sagt Beate Escher, Erstautorin und Umwelttoxikologin am UFZ.
Wie die Forschenden nun in der Fachzeitschrift Nature Water ausführen, konnten sie mehr als 120 organische Mikroschadstoffe in den Wasserproben nachweisen. Die höchsten Konzentrationen bei den chemischen Stoffen fanden sie für das Flammschutzmittel Tris(1-chlor-2-propyl)phosphat, den Polymerzusatzstoff Hexamethoxymethylmelamin und das Korrosionsschutzmittel 1H-Benzotriazol. Die meisten der nachgewiesenen Schadstoffe wurden vermutlich aus Kläranlagen in die Oder eingeleitet, sie weisen jedoch nur niedrige Konzentrationen auf. Das Wissenschaftsteam fand jedoch auch Schadstoffe, die wie etwa 2,4-Dichlorphenol vermutlich aus der Industrie eingeleitet wurden, sowie Pestizide und deren Abbauprodukte, die wie beispielsweise Chlortoluron üblicherweise direkt aus landwirtschaftlich genutzten Flächen in das Gewässer eingetragen werden - allerdings: "Die Konzentrationen dieser Chemikalien sind nicht ungewöhnlich hoch, sondern typisch für europäische Flüsse. Sie haben nicht zum Fischsterben geführt, jedoch können sie zusammen mit den Algentoxinen zu zusätzlichem Stress von aquatischen Organismen führen", sagt Beate Escher.
Um zu untersuchen, wie groß dieser Stress und damit das Risiko der nachgewiesenen Schadstoffe für Wasserorganismen sind, nutzten die Forschenden den Risikoquotienten RQ. Er wird als Verhältnis zwischen der gemessenen Konzentration eines Schadstoffs und seiner unschädlichen Konzentration (PNEC, predicted no effect concentration) definiert. Überschreitet der RQ den Wert von 1, kann der Schadstoff Wasserlebewesen beeinträchtigen. Die Forschenden addierten die RQs der nachgewiesenen Chemikalien und erhielten so an den Probenahmestellen Mischungs-Risikoquotienten (RQmix) zwischen 16 und 22. "Alle RQmix-Werte überstiegen den Schwellenwert von 1 erheblich, was auf ein potenzielles Risiko für Wasserorganismen durch Schadstoffe hinweist", sagt Co-Autorin und Wasserchemikerin Stephanie Spahr vom IGB. Dabei seien nur 30 organische Mikroschadstoffe in das Modell einbezogen worden, obwohl im Fluss vermutlich Tausende von organischen Chemikalien vorhanden seien. Die aus den Wasserproben extrahierten Chemikaliencocktails zeigten auch deutliche Effekte in Laborexperimenten mit Algen, Wasserflöhen und Zebrafischembryonen, die als gängige Modelle für aquatische Organismen gelten.
Wie diese Schadstoffe und die in der Oder festgestellten Prymnesine als Mischungen zusammenwirken, untersuchten die Forschenden in Wasserextrakten anhand neurotoxischer Wirkungen auf menschliche Nervenzellen in vitro. "Dieser in der Bioanalytik und Wasserqualitätsbewertung gängige Test zielt nicht darauf, das Risiko für die menschliche Gesundheit abzuschätzen, sondern die Mischungseffekte neurotoxischer Chemikalien zu identifizieren", sagt Beate Escher. Die Assistenzprofessorin Elisabeth Varga, Lebensmittel- und Umweltanalytikerin an der Vetmeduni, stellte einen Algentoxin-Standard zur Verfügung, der große Ähnlichkeit mit den in der Oder identifizierten Prymnesinen aufweist. Die in vitro Tests werden am UFZ im automatisierten Hochdurchsatzscreening in der modernen Technologie-Plattform CITEPro in sehr kleinen Volumina durchgeführt. "Daher war es möglich, diesen Prymnesin-Standard und weitere detektierte Mikroverunreinigungen sowie die Wasserextrakte direkt zu testen", sagt Beate Escher. Die Prymnesine verkürzten schon bei sehr geringen, im nanomolaren Bereich liegenden Konzentrationen die Auswüchse der Nervenzellen, die die Signalübertragung verantworten, und töteten die Zellen.
Daneben wurden viele, in den Wasserextrakten quantifizierte organische Mikroschadstoffe untersucht: Etliche Stoffe waren neurotoxisch, aber bei deutlich höheren Dosierungen. "Durch Mischungsmodellierungen und Vergleiche der in den Extrakten gemessenen Neurotoxizität konnten wir zeigen, dass Prymnesine die neurotoxische Wirkung dominieren. Die von uns analysierten Mikroverunreinigungen haben aber auch einen Beitrag dazu geleistet", sagt Elisabeth Varga. Die Effekte der Schadstoffbelastung auf aquatische Organismen in Flüssen wie der Oder könnten aber letzten Endes noch viel größer sein. "Die Prymnesine haben einen sehr hohen Anteil an den Cocktaileffekten, die durch Mikroschadstoffe noch verstärkt werden. Das belastet das gesamte Ökosystem der Oder, das ohnehin schon unter großem Stress steht, nur noch mehr", sagt Beate Escher. Und Luisa Orsini, Co-Autorin und Professorin für Evolutionäre Systembiologie und Umwelt-Omik an der University of Birmingham, ergänzt: "Die wärmeren Temperaturen und die extremen Wetterereignisse, die durch den Klimawandel verursacht werden, können solche toxischen Algenblüten zu einem noch größeren Risiko für Binnen- und Meeresgewässer und die Bevölkerung machen."