05.09.2022: Die Geburt eines zweiten Kindes ist nicht nur für die Eltern ein besonderes Erlebnis, sondern auch für das ältere Geschwisterkind. Aus Verhaltensstudien mit Menschen ist bekannt, dass die Änderung der Familienkonstellation für das ältere Kind eine verwirrende und anstrengende Zeit ist, die nicht selten mit Anhänglichkeit, depressiven Stimmungen und Wutanfällen einhergeht. Unklar war bislang jedoch, inwieweit dieser Stress auch physiologisch nachweisbar ist. Verena Behringer, Wissenschaftlerin am Deutschen Primatenzentrum (DPZ) – Leibniz-Institut für Primatenforschung in Göttingen ist dieser Frage bei unseren nächsten Verwandten nachgegangen. In einer Studie, die sie gemeinsam mit Andreas Berghänel, Domestication Lab/Konrad-Lorenz-Institut für Vergleichende Verhaltensforschung der Veterinärmedizinische Universität Wien, sowie einem internationalen Forschungsteam durchführte, untersuchte sie verschiedene Marker im Urin von wildlebenden Bonobos (Pan paniscus). Die Forschenden fanden heraus, dass die Geburt eines zweiten Jungtieres bei den älteren Geschwistern den Anstieg des Stresshormons Kortisol um das Fünffache und eine verminderte Immunabwehr zur Folge hatte. Die physiologischen Veränderungen waren bis sieben Monate nach der Geburt nachweisbar und unabhängig von den üblichen Entwöhnungsprozessen, die die Jungtiere altersbedingt ohnehin durchleben (eLife).
Die Studie wurde an der Forschungsstation LuiKotale im kongolesischen Regenwald durchgeführt. Nahe der Station leben zwei Gruppen von Bonobos, die an Menschen gewöhnt sind. Die Forschenden beobachteten über 650 Stunden lang das Verhalten von 17 Jungtieren, die zum ersten Mal ein Geschwister bekamen und bei dessen Geburt zwischen zwei und acht Jahre alt waren. Gleichzeitig sammelten sie 319 Urinproben der Bonobos vor und nach der Geburt des Geschwister-Jungtieres.
„Während die Jungtiere heranwachsen gibt es verschiedene Prozesse der sozialen Entwöhnung oder der Nahrungsumstellung, die ebenfalls Stressreaktionen auslösen können“, sagt Verena Behringer, Wissenschaftlerin im Hormonlabor am Deutschen Primatenzentrum und Hauptautorin der Studie. „Dazu gehört zum Beispiel, dass die Jungtiere ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr gesäugt oder weniger getragen werden. Um den altersbedingten Entwöhnungsprozess von der Geburt des Geschwisterchens auseinander zu dividieren, haben wir die Urinproben und die Verhaltensbeobachtungen vor und nach der Geburt des zweiten Jungtieres analysiert und dazu ins Verhältnis gesetzt.“
Verena Behringer untersuchte die Urinproben im Labor auf die Konzentrationen dreier verschiedener Substanzen: Kortisol, Neopterin und Trijodthyronin (T3). Kortisol ist ein Hormon, das als Reaktion auf einen Stressor ausgeschüttet wird, Neopterin wird von den aktiven Abwehrzellen des Immunsystems produziert und T3 ist ein Schilddrüsenhormon, das die Stoffwechselaktivität im Körper reguliert. Die Konzentration dieser Marker im Urin vermittelt ein Bild vom physiologischen Zustand der jungen Bonobos. Die Untersuchungen zeigten, dass die Kortisolwerte im Urin der älteren Geschwister bei der Geburt ihres jüngeren Geschwisters um das Fünffache anstiegen und bis zu sieben Monate auf diesem Level blieben. Gleichzeitig sanken die Neopterin-Konzentrationen ab, was auf eine verminderte Immunabwehr schließen lässt. Das Schilddrüsenhormon T3 zeigte hingegen keine signifikante Änderung.
„Die Bonobo-Kinder erleben mit der Geburt ihres Geschwisters plötzlich einen extremen Stresszustand“, erklärt Verena Behringer diese Ergebnisse. „Die Kortisolwerte sind langfristig ungewöhnlich hoch, unabhängig davon ob das Jungtier bei der Geburt des Geschwisters zwei oder bereits acht Jahre alt war. Diese andauernde Stressreaktion wirkt sich negativ auf die Immunabwehr aus. Da die Konzentration des Schilddrüsenhormons keine Änderung zeigte, können wir davon ausgehen, dass die Stressreaktion nicht durch energetische Stressoren, wie beispielsweise ein abruptes Beenden des Säugens, ausgelöst wird.“
Diese Annahme bestätigten auch die aufgenommenen Verhaltensdaten. Die Forschenden beobachteten zum Beispiel in welchem Maß die älteren Jungtiere gesäugt wurden, wie viel Körperkontakt noch zur Mutter bestand und wie oft sie getragen wurden. Alle Entwöhnungsprozesse, die als zusätzliche Stressoren wirken können, waren entweder vor der Geburt des zweiten Jungtieres abgeschlossen, zeigten mit der Geburt keine plötzliche Änderung oder waren nur signifikant bei jüngeren Tieren und verschwanden mit zunehmendem Alter der Jungtiere.
„Unsere Studie beweist erstmals, dass die Geburt eines Geschwisters für das ältere Kind eine wirklich stressige Angelegenheit ist“, fast Verena Behringer zusammen. „Sorgen muss man sich aber nicht machen. Sehr wahrscheinlich ist dieser Stress tolerierbar und führt zu einer höheren Stressresistenz der älteren Kinder im späteren Leben. Jüngere Geschwister sind schließlich nicht nur Konkurrenten, sondern wichtige Sozialpartner, die uns in unserer Entwicklung positiv beeinflussen.“