Kombinierte Expertise
In einem zweiten Schritt wird die Prothese noch einmal neu gedruckt – mittels Pulververfahren, wieder direkt auf Henry zugeschnitten. „Das ist der Beginn einer großen Sache“, sagt Eva Schnabl-Feichter und deutet auf das Modell der neuen Prothese. Wenn alles klappt, wäre später sogar eine computergesteuerte Prothese für Hunde denkbar, die ein fehlendes Gelenk ersetzen kann. In der Humanmedizin wird so etwas C-Leg genannt, ein mechatronisches Kniegelenk, das bei der Version für Hunde den Ellenbogen nachahmen könnte.
„Menschen sind natürlich leichter in der Kommunikation und können sofort rückmelden, wenn etwas drückt, unausgeglichen oder unangenehm ist – und vor allem wo“, setzt technischer Leiter Martin Petraschka hinzu. Die Firma Kerkoc ist eigentlich auf Orthopädietechnik und Bandagen im Humanbereich spezialisiert und erst vor drei Jahren mit der Linie Kplusanimal in die Versorgung von Tieren eingestiegen. „Seither konnten wir mehr als 500 Hunden durch Bandagen oder Prothesen helfen“, so Orthopädietechnikerin Hannah Dorn.
Mehr Lebensqualität, mehr Lebenszeit
Henrys zweites Glück ist, dass er von einer liebevollen Halterin adoptiert wurde. Tina Sigala schloss den Rüden ins Herz, als er eineinhalb Jahre alt war, und will ihm so viel Lebensqualität und -zeit wie möglich schenken. Nun wartet sie mit Henry in der Ambulanz der neuen Kleintierklinik an der Vetmeduni. Es stehen Untersuchungen und die Anfertigung eines Gangbildes im Bewegungsanalyse-Labor an. Auch bei Tieren hilft Physiotherapie bei Schmerzen am Bewegungsapparat und so ist das dortige Team um Fachtierärztin Barbara Bockstahler in Henrys Behandlung eingebunden. Die Tierphysiotherapeut:innen analysieren anhand von Tests die jeweilige Gewichtsverteilung auf die vier Pfoten ihrer Tierpatienten und erstellen anschließend Gangbilder sowie Behandlungs- und Trainingspläne, um Fehlbelastungen auszugleichen.
Seit zweieinhalb Jahren wird Henry durch eine Prothese unterstützt, die von Kerkoc hergestellt wurde. Aus dem dortigen Team sind zwei Techniker:innen für Henrys Termin in der Kleintierklinik anwesend und begutachten die beiden Prothesen, die Henry zurzeit im Wechsel verwendet: eine einfache graue und eine mit roten und schwarzen Ornamenten versehene weiße. „Einen Tag klappt es besser mit der neuen Prothese, am nächsten mag er nur mit der alten laufen“, berichtet Besitzerin Tina Sigala. Zusätzlich habe sie einen Wagen angeschafft, in den der Belgische Schäfer hund beim Spaziergang springen könne. „Das nutzt er sehr gerne. Schwupps, liegt er dort drin und wartet, dass ich ihn nach Hause ziehe, wenn er genug erkundet hat“, setzt sie lachend hinzu.
Ganganalyse und bildgebende Diagnostik
Die Untersuchungen lässt Henry trotz allen Trubels wohlwollend über sich ergehen, er scheint zu spüren, dass die Techniker:innen und Veterinärmediziner:innen zusammengekommen sind, um ihm bestmöglich zu helfen. Dass er dabei so ruhig und kooperativ bleibt, war nicht immer so, denn „eigentlich war er sehr menschenscheu, als ich ihn bekommen habe“, erinnert sich Besitzerin Sigala. Im Bewegungsanalyse-Labor soll sie Henry schließlich ein paar Mal ohne und ein paar Mal mit Prothese im Schritttempo über die Messplatte führen. Eine Videokamera zeichnet das Ganze auf, die Messplatte registriert den Druck und erstellt am PC ein Gangbild anhand der Belastung seiner drei Pfoten bzw. der Prothese. Gestartet wird ohne Prothese, die sich Orthopädietechnikerin Hannah Dorn in der Zwischenzeit genau anschaut. Sie hat die Prothese erstellt, testet nun die Elastizität der Feder und prüft die Abnutzung des Gummis an der Sohle. Bei der Polsterung am Schaft kann noch etwas nachgearbeitet werden, denn dort landet der Großteil des Drucks durch die Prothese an Henrys Körper, sind sich Veterinärmediziner:innen und Orthopädietechniker:innen einig.
Währenddessen lockt Sigala den gutmütigen Rüden, der ihr bereitwillig ohne seine Prothese hinterherhüpft, über die im Boden eingelassene Messplatte. Die Anspannung aller im Raum sinkt merklich, als Henry schließlich in seine Prothese schlüpfen darf, die mit Klettverschlüssen am Vorderlauf festgeschnallt wird. Ein erneuter Durchgang steht an und obwohl die Prothese ein hörbares „Klock, tapp, klock, tapp, klock, tapp“ auf dem Gummiuntergrund erzeugt, scheint dies Henry nicht zu stören, und er läuft mit neuer Energie neben seiner Besitzerin her.
Sofort ist erkennbar, was Veterinärmedizinerin Schnabl-Feichter meint, wenn sie sagt: „Lebensqualität steigern und Gelenke entlasten“ – insbesondere bei großen Tieren. Henry wiegt ohne Prothese etwa 35 Kilogramm, „jedes Gramm weniger kommt seinen Gelenken zugute“, bemerkt die Tierärztin, während sie Henry beobachtet. Sein linker Vorderlauf stellt sich durch die Prothese sofort vertikaler und der Rüde legt an Tempo beim Laufen zu. Nach fünf Minuten ist auch die Ganganalyse mit Prothese „im Kasten“ und Henry ist für heute entlassen. Ein CT-Bild gibt es bereits, das für die Erstellung des Prothesenmodells verwendet werden kann.
„Unser Ziel ist die Bewegung beim Spaziergang“, sagt Schnabl-Feichter mit einem Blick auf Henry, der nun im Botanischen Garten der Universität neugierig an den Pflanzen schnüffelt. „Bei Traumata durch Unfälle und angeborenen Missbildungen haben wir unterschiedliche Möglichkeiten, in welcher Höhe wir amputieren. Eine neue prothetische Versorgung kann uns hier helfen, gleich während des chirurgischen Eingriffs die zukünftige Mobilität des Tieres im Blick zu behalten.“
Mit 3D-Technik zu einer neuen Pfote
Generell ist die Prothetik im Tierbereich noch stark ausbaufähig, sind sich die Orthopädietechniker:innen einig. Vor allem, weil bei Tieren eine Integration in den Knochen häufig zu Komplikationen durch Infektionen führt. „Einem Menschen kann ich begreiflich machen, dass Schmutz rund um den Übergang schwierig ist und zu Entzündungen führen kann, einem Tier nicht“, sagt Schnabl-Feichter. Auch Henry liebt es zu schwimmen und geht mit seiner Prothese ins Wasser. Eine neue Schwimmweste unterstützt den Belgischen Schäferhund dabei. „Alles, was wir jetzt machen, ist nicht nur für Henry, sondern auch für nachfolgende Hunde“, ist sich Tina Sigala sicher und streicht Henry über den Kopf. „Wenn wir beim Spazieren nicht jemanden getroffen hätten, der uns für die Prothese weiterverwiesen hat, wären wir jetzt nicht hier – und Henry vielleicht schon nicht mehr da.“