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FWF-Projekt

Forschung zur Aufarbeitung des Nationalsozialismus und Austrofaschismus

 

Im Zuge der Vorbereitungen zum 250-jährigen Universitätsjubiläum 2015 entschied sich die Universitätsleitung unter Rektorin Sonja Hammerschmid, die Rolle der Tierärztlichen Hochschule in der Zeit des Austrofaschismus und des Nationalsozialismus erstmals näher zu beleuchten. Im Rahmen eines vierjährigen FWF-Projekts unter der Leitung der Zeithistorikerin Lisa Rettl gelang es, diese bis dahin verschwiegenen Jahre offenzulegen und zeitgeschichtlich zu bearbeiten.

Forschungsergebnisse:

„Auch die österreichische Tierärzteschaft hat für das Zustandekommen der heutigen staatspolitischen Lage in Österreich sich eingesetzt, dafür gekämpft und Opfer in großer Zahl gebracht“, hielt David Wirth anlässlich des 1938 erfolgten „Anschlusses“ Österreichs an das Deutsche Reich in der Wiener Tierärztlichen Monatsschrift fest: „Die Jahre einer würdelosen, sogenannten Unabhängigkeit sind vorbei!“, schloss der Lehrkanzelvorstand am Institut für Interne Medizin und klinische Seuchenlehre an der Wiener Tierärztlichen Hochschule, zweimaliger Rektor und Schriftführer des NS- Dozentenbundes, seinen Jubelartikel. Aus heutiger Sicht widerlegt seine Aussage die an der Veterinärmedizinschen Universität Wien nach 1945 noch jahrzehntelang gepflegte These von einer angeblich „unpolitischen“ Veterinärmedizin und einer von außen „gleichgeschalteten“ Tierärztlichen Hochschule, die scheinbar unbeteiligt die politischen Entwicklungen zur Kenntnis nahm, jedoch selbst keinerlei Verstrickungen zum Nationalsozialismus zu kennen schien.

In unserem zeitgeschichtlichen Forschungsprojekt zur NS-Geschichte der Veterinärmedizinischen Universität Wien – damals „Tierärztliche Hochschule“ – untersuchten wir mehrere Aspekte dieser bis dato noch unerforschten österreichischen Universitätsgeschichte. Den Ausgangspunkt bildete eine erste und systematisch angelegte Erhebung verschiedener Quellenbestände in mehreren in- und ausländischen Archiven. Den im Projektantrag formulierten universitätsgeschichtlichen Fragestellungen gingen wir schließlich in zwei Schwerpunktpublikationen nach.

Lebensgeschichten im Fokus

Zum einen untersuchten wir Lebenswege jüdischer Studierender, woraus anlässlich des Gedenkjahres 1938-2018 die umfangreiche Monografie Jüdische Studierende und Absolventen der Wiener Tierärztlichen Hochschule 1930-1947. Wege – Spuren – Schicksale (Wallstein Verlag, 360 Seiten) hervorging. In 42 Biogrammen und 4 größeren konnte dabei nicht nur der an der Tierärztliche Hochschule omnipräsente Antisemitismus sichtbar gemacht, sondern auch nachgewiesen werden, dass es weit mehr jüdische Studierende gab, als in den marginalisierenden Nachkriegsdiskursen bisher vermutet wurde.

Zentrale Akteure der Hochschule

Umgekehrt folgten wir in der zweiten Publikation Die Wiener Tierärztliche Hochschule und der Nationalsozialismus. Eine Universitätsgeschichte zwischen dynamischer Antizipation und willfähriger Anpassung (Wallstein Verlag 2019) den zentralen Akteuren der Hochschulgeschichte auf dem Weg in den Nationalsozialismus: Hier zeigte sich, dass insbesondere die Studierenden eine gravierende Rolle als politische Akteure spielten. Im Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund organisiert, demokratisch legitimiert und seit den Studentenwahlen 1931 an der Tierärztlichen Hochschule sogar mit absoluter Mehrheit ausgestattet, gehörten die nationalsozialistischen Studierenden in signifikanter Übereinstimmung mit ihren Lehrenden, eindeutig zu den politischen Wegbereitern des „Anschlusses“ – eine Rolle, die in der oben genannten Publikation als Ergebnis des Forschungsprojektes ausführlich diskutiert und dargestellt wurde.
 
Von Dr. Lisa Rettl, Leiterin des FWF-Projekts

Lisa Rettl, geboren 1972 in Klagenfurt/Celovec, arbeitete bis 2020 als freischaffende Historikerin und Ausstellungskuratorin in Wien und Kärnten. Zu ihren Forschungsschwerpunkten – Geschichte des Nationalsozialismus, Erinnerungskultur, Minderheitenpolitik und antifaschistischer Widerstand, Wissenschafts- und Universitätsgeschichte – erschienen zahlreiche Bücher, Aufsätze und Sammelbände.

Neben Vorträgen und Lehrtätigkeit an der Universität Klagenfurt kuratierte sie ab 2004 mit ihrem Team regelmäßig Ausstellungen zu verschiedenen zeitgeschichtlichen Themen, darunter für die Stadt Villach und das Wien Museum. 2008/09 fungierte sie als Mitglied des internationalen Kuratorenteams der viel beachteten Wanderausstellung „Was damals Recht war“ Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht. In diesem Zeitraum produzierte sie auch mit der Regisseurin Jenny Gand den biografischen Dokumentarfilm Wilde Minze, der 2010 seinen österreichischen Kinostart erlebte. Im selben Jahr erschien die mit ihrem Kollegen Peter Pirker verfasste biografische Studie zu dem aus Kärnten stammenden KZ-Arzt Sigbert Ramsauer – eine medizingeschichtliche und rechtshistorische Zeitgeschichtsstudie, die in Rezensionen auf internationaler Ebene vielfach gewürdigt wurde. 2011/12 übernahm sie die Leitung und Konzeption des Projekts Neugestaltung des Museums Peršmanhof – ein Museum zur Kärntner Widerstandsgeschichte, das 2012 eröffnet wurde und wo sich die Zahl der Besucher:innen seither verzehnfacht hat. 2014 folgte zum Thema Peršmanhof eine umfangreiche Schwerpunktpublikation (mit Gudrun Blohberger) zu dem hier begangenen Kriegsverbrechen. Ein weiteres Jahr später erschien als Resultat ihres Forschungsprojekts „Deserteure“ eine Biografie zu dem Wehrmachtsdeserteur Richard Wadani (gem. mit Magnus Koch), ferner zahlreiche Artikel zu Frauen im Widerstand.

Von 2014 bis 2018 leitete Lisa Rettl das FWF-Projekt „Die Tierärztliche Hochschule im Nationalsozialismus“ (peer-reviewed), wo sie mit ihren Mitarbeiter:innen wissenschaftsgeschichtliches Neuland erschloss: Zwei Monografien zur Geschichte der Tierärztlichen Hochschule (Wallstein Verlag, 2018 und 2019) gingen aus diesem Projekt hervor.

Für ihre wissenschaftliche Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet: im Jahr 2000 mit dem Würdigungspreis der Universität Klagenfurt, 2002 mit dem Theodor-Körner-Preis und 2008 nochmals mit dem Theodor-Körner-Preis für Kuratorentätigkeit; im Dezember 2012 erhielt sie den Preis für Geistes- und Sozialwissenschaften des Landes Kärnten, im Juni 2015 gemeinsam mit Gudrun Blohberger den Hans-Maršalek Preis. Seit 2018 ist sie Vorsitzende des Fachbeirats für Wissenschaft des Kärntner Kulturgremiums.

Seit 2019 lebt Lisa Rettl in Kärnten, wo sie eine bio-zertifizierte Landwirtschaft mit Fokus Kräuteranbau und -verarbeitung führt.

Rezension

... Diese Hochschule war damit zwar eine der letzten Unis in Österreich, die sich der eigenen NS-Geschichte stellten. Die Aufarbeitung durch das Team um Rettl erfolgte dafür umso gründlicher und setzt durchaus für andere Unis Maßstäbe ...

Tageszeitung „Der Standard“ am 18. September 2019

Die Wiener Tierärztliche Hochschule und der Nationalsozialismus

Eine Universitätsgeschichte zwischen dynamischer Antizipation und willfähriger Anpassung

Die zeitgeschichtliche Studie von Lisa Rettl und ihrem Forschungsteam versteht sich als erste Annäherung zu einer bisher vernachlässigten österreichischen Universitätsgeschichte. Ausgangspunkt ihrer Aufarbeitung sind die Fragen: Wer waren die zentralen Akteure an der Tierärztlichen Hochschule und in welchen Handlungsspielräumen bewegten sie sich? Welche Ereignisse prägten das tierärztliche Hochschulleben vom Ende der Ersten Republik über die Jahre des Austrofaschismus bis hin zum »Anschluss«?

356 S., 53 Abb., geb., Schutzumschlag, 15,5 x 23 cm
ISBN 978-3-8353-3459-5

Wallstein Verlag

Jüdische Studierende und Absolventen der Wiener Tierärztlichen Hochschule

Wege - Spuren - Schicksale

Über jüdische Studierende und Absolventen der Wiener Tierärztlichen Hochschule war lange wenig bekannt. Wer waren diese Menschen waren und was geschah mit ihnen im Nationalsozialismus geschah? Haben sie überlebt? Und wenn ja, wie und wo gestaltete sich ihr Weiterleben? Diesen Fragen wird in biografischen Studie nachgegangen: Neben zahlreichen biografischen Skizzen findet sich eine umfassende  Familienbiografie über den Tiermedizinstudenten Wilhelm Marbach sowie drei weitere ausgewählte Lebensgeschichten: über Hermine Allgayer, die ihr Studium aufgrund ihrer Einstufung als »jüdischer Mischling« beenden musste; über Joseph Tyndel, der sein Studium 1938 gar nicht erst beginnen konnte und über Edmund Weissberg, dessen Vertreibungsgeschichte schon vor dem »Anschluss« im März 1938 zum Abschluss kam.

360 S., 168 farb. Abb., geb., Schutzumschlag, 15,5 x 23 cm
ISBN 978-3-8353-3285-0

Wallstein Verlag


Kontakt halten

Enkelsohn von vertriebenem jüdischen Studenten Karl Wieninger zu Besuch

Roy Schwartz ist der Enkelsohn von Karl Weininger, der von 1929 bis 1935 an der Wiener Tierärztlichen Hochschule Veterinärmedizin studierte. Weininger war Mitglied der dortigen jüdischen Studentenverbindung und wurde noch vor dem „Anschluss“ Zeuge antisemitischer Übergriffe. 

Durch Zufall hat sein Enkelsohn, Roy Schwartz, das Buch von Lisa Rettl entdeckt und so mehr über das Leben seines Großvaters erfahren. Schwartz lebt in Israel in der Nähe von Tel Aviv und hat die Vetmeduni besucht. Mittlerweile ist er – durch die Erinnerungsarbeit an der Vetmeduni – sogar österreichischer Staatsbürger.

 


Buchpräsentationen

Rückblicke

Buchpräsentation 24. September 2019, Festsaal Vetmeduni

Die Vetmeduni lud am 24. September 2019 zur Buchpräsentation von Lisa Rettl in den Festsaal am Campus ein. Rettls Werk ging eine vierjährige Forschungsarbeit voraus und beleutet die Universität in der Zeitspanne vom Ende der ersten Republik bis zur Nachkriegszeit. 

Die Forschungsergebnisse zeigen: Ein Großteil der Professoren, Assistenten und Studenten ist ganz klar zu den Wegbereitern des Nationalsozialismus zu zählen. Schon seit den 1920er-Jahren war  nationalsozialistisches Gedankengut an der Wiener Tierärztlichen Hochschule tief verwurzelt, bereits 1931 hatte der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund in demokratischen Wahlen die absolute Mehrheit erreicht. Lisa Rettl: „Der Terror der tierärztlichen Nazistudenten hat das Hochschulleben sehr intensiv geprägt und bestimmt, nicht zuletzt deswegen, weil diese Studierenden von Professoren, Assistenten und Hochschulleitung geschützt und gestützt wurden.“

Am Programm der Buchpräsentation stand zudem eine Gesprächsrunde unter der Moderation Judith Brandner (ORF) über die Herausforderungen und möglichen Wege universitärer Erinnerungsarbeit. Am Podium nahmen teil: 

Linda Erker (Zeithistorikerin der Universität Wien und Mitautorin)
Lisa Rettl (Autorin)
Johann Schäffer (Veterinärmhistoriker Tierärztliche Hochschule Hannover)
Wolfgang Schütz (Rectus emeritus Medizinische Universität Wien)
Petra Winter (Rektorin Vetmeduni).

Buchpräsentation 14. November 2018, Universität für Musik und darstellende Kunst Wien

Die Buchpräsentation fand als Abendveranstaltung am ehemaligen Standort der Vetmeduni in der Linken Bahngasse statt, wo nun die Universität für Musik und darstellende Kunst Wien angesiedelt ist. Lisa Rettl stellte im Zuge der Präsentation ergreifende Schicksale von vier jüdischen Studierenden der damaligen tierärztlichen Hochschule vor.

Programm der Buchpräsentation

Grußworte
Ulrike Sych (Rektorin der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien)
Oskar Deutsch (Präsident der Israelitische Kultusgemeinde Wien)
Gerald Weissengruber (Veterinärhistoriker der Vetmeduni)

Buchpräsentation
Thedel v. Wallmoden, Verleger Wallstein Verlag
Lisa Rettl, Buchautorin, Zeithistorikerin und Leiterin des FWF-Projekts „Die Wiener Tierärztliche Hochschule im Nationalsozialismus“

Podiumsgespräch mit
Sonja Hammerschmid, Initiatorin der NS-Aufarbeitung ehemalige Rektorin der Vetmeduni Vienna, Abgeordnete zum Nationalrat, Bildungssprecherin der SPÖ
Claudia Kuretsidis-Haider, Projektmitarbeiterin und Zeithistorikerin, Leiterin der Zentralen österreichischen Forschungsstelle Nachkriegsjustiz
Petra Winter, Rektorin der Vetmeduni 
Judith Brandner, Moderation (ORF)

Musikalischer Rahmen: Studierende der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien in Kooperation mit dem exil.arte Zentrum 

Büchertisch: Wallstein Verlag