Aufgrund ihrer hohen Lebenserwartung eignen sich Nacktmulle besonders gut, um Mechanismen, die die Zellfunktionen aufrechterhalten und die Alterung verlangsamen, zu erforschen. Diese Ergebnisse könnten relevant sein, um die Alterung und die Entstehung von Krebs beim Menschen weiter zu beleuchten. Eine internationale Studie unter Beteiligung der Veterinärmedizinischen Universität Wien (Konrad-Lorenz-Institut für Vergleichende Verhaltensforschung; KLIVV) liefert nun anhand der Nacktmulle und ihres Darmtrakts wichtige neue Erkenntnisse, wie adulte Stammzellen auf die langfristige Gewebeerhaltung wirken.
Nacktmulle (Heterocephalus glaber) sind ganz besondere Säugetiere. Die maximal 15 Zentimeter kleinen Tiere leben in großen unterirdischen Bauten und Kolonien von bis zu 300 Tieren in den Halbwüsten Ostafrikas und sind die einzige Art der Gattung Heterocephalus. Sie sind nicht nur äußerst sozial, auch ihre Lebenserwartung ist ungewöhnlich hoch und übertrifft die anderer Nagetiere deutlich. Aufgrund dieser Eigenschaft bieten sie Wissenschafter:innen eine einzigartige Gelegenheit zu erforschen, wie die Evolution die Aktivität adulter Stammzellen (ASC) und die Gewebefunktion mit zunehmender Lebenserwartung beeinflusst hat.
Bei Säugetieren und anderen multizellulären Organismen erfordert die langfristige Aufrechterhaltung der Gewebehomöostase eine strenge Regulierung der Aktivität der adulten Stammzellen, um eine effiziente Reparatur und Regeneration zu gewährleisten. In Säugetiergeweben mit hohem Umsatz wie dem Darm wird das Gleichgewicht in erster Linie durch die kontinuierliche Teilung und Differenzierung der ASC und den anschließenden Zelltod (Apoptose) der reifen Zellen gesteuert. Das längere Überleben von ASC setzt sie einem erhöhten Risiko für Mutationen aus und verringert ihre Fitness, was sich im Alter und bei Krankheiten wie Krebs zeigt.
Darmtrakt mit zahlreichen zellulären Besonderheiten
Vor diesem Hintergrund untersuchte das Wissenschaftsteam den Darmtrakt von Nacktmullen und verglich ihre Darm-ASCs (Lgr5+) mit denen von Mäusen und Menschen. Dazu Dustin J. Penn vom KLIVV der Vetmeduni: „In vivo fanden wir bei Nacktmullen einen erweiterten Pool von Lgr5+-Zellen. Diese Zellen weisen speziell an der Kryptenbasis (Lgr5+CBC) im Vergleich zu denen von wilden Hausmäusen langsamere Teilungsraten auf, haben aber einen ähnlichen Umsatz wie menschliche Lgr5+CBC-Zellen. Anstatt in die Ruhephase (G0) einzutreten, reduzieren die Lgr5+CBC-Zellen von Nacktmullen ihre Teilungsraten durch eine Verlängerung der G1- und/oder G2-Phasen des Zellzyklus.“
Darüber hinaus beobachteten die Forscher:innen einen höheren Anteil differenzierter Zellen in Nacktmullen, die der Darmschleimhaut einen besseren Schutz und eine bessere Funktion verleihen. „Die Darmschleimhaut von Nacktmullen ist in der Lage, jedes chemische Ungleichgewicht in der Darm-Umgebung effizient zu erkennen und eine robuste pro-apoptotische, anti-proliferative Reaktion innerhalb der Stamm-/Progenitorzellzone auszulösen“, erklärt Studien-Co-Autor Dustin J. Penn vom KLIVV der Vetmeduni.
Weniger Krebs: Evolutionäre Anpassungen verringern das Auftreten altersbedingter Erkrankungen
Ihre Studie zur Charakterisierung des Darmtrakts von Nacktmullen ergänzt laut den Forscher:innen die wachsende Zahl von Belegen, dass diese bemerkenswerten Tiere einzigartige Anpassungen entwickelt haben, die eine langfristige Aufrechterhaltung der Gewebehomöostase ermöglichen und – als sekundäre Folge – das Auftreten von altersbedingten Krankheiten wie Krebs verringern. Die Entwicklung einer größeren Reserve von ASC in allen Gewebetypen bei Nacktmullen erleichtert die effiziente Erhaltung des Gewebes in einer Umgebung mit hohem oxidativem und mechanischem Stress, verringert die Wahrscheinlichkeit der Fixierung schädlicher Mutationen aufgrund einer verstärkten Selektion gegen schädliche Varianten und verlangsamt die klonale Expansion, die beim Altern zu beobachten ist. Die niedrigeren ASC-Teilungsraten im Darm von Nacktmullen – wie beim Menschen – verhindern zudem wahrscheinlich eine proliferative Erschöpfung der ASC, was für eine höhere Lebenserwartung erforderlich ist.
Der Artikel „Adult stem cell activity in naked mole rats for long-term tissue maintenance“ von Shamir Montazid, Sheila Bandyopadhyay, Daniel W. Hart, NanGao, Brian Johnson, Sri G. Thrumurthy, Dustin J. Penn, Bettina Wernisch, Mukesh Bansal, Philipp M. Altrock, Fabian Rost, Patrycja Gazinska, Piotr Ziolkowski, Bu’Hussain Hayee, Yue Liu, Jiangmeng Han, Annamaria Tessitore, Jana Koth, Walter F. Bodmer, James E. East, Nigel C. Bennett, Ian Tomlinson und Shazia Irshad wurde in „Nature Communications“ veröffentlicht.
Wissenschaftlicher Artikel