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Forschung
Moleküle eiskalt erwischt: Professor Sebastian Glatt im Porträt
Sebastian Glatt, zuletzt Leiter der Max-Planck-Forschungsgruppe am Malopolska Centre of Biotechnology (MCB) in Krakau, ist seit Oktober an der Vetmeduni. Über den RNA-zentristischen Blick, den Nutzen von Kryoelektronenmikroskopie und seine Pläne hat er mit dem VETMED Magazin gesprochen.
Als Sebastian Glatt 2020 an der Jagiellonen-Universität einen ERC Consolidator Grant zugesprochen bekam, formulierte er folgende Empfehlungen für junge Forschende: unabhängig werden und eigene Ideen in der Forschung verfolgen. Eigene Ideen bringen den nötigen Antrieb. Um die Forschung durchzuziehen, braucht es dann neben der Idee auch die notwendige technische Expertise und einen guten Plan. Gerade ERC-Mittel bekommt man nicht für eine Idee allein. Es braucht viele präliminäre Daten, die zeigen, dass die drängendsten Fragen kurz vor der Beantwortung stehen. Mit öffentlichem Geld zu arbeiten, erfordert ein volles Verantwortungsgefühl, legt er nach.
Nach 16 Jahren im Ausland kehrt der Wiener in seine Heimatstadt zurück. Der ausgebildete Genetiker und Molekularbiologe hat mit dem Wintersemester 2024 an der Vetmeduni zunächst in Teilzeit begonnen. Ab Juni 2025 will er in Wien durchstarten und die Vorbereitungen dazu laufen bereits. Taktgeber ist für ihn letztlich auch seine Familie. Die kleine Tochter soll in Wien eingeschult werden und seine Frau, eine Pflanzenbiotechnologin, sucht ebenfalls eine adäquate Position. Zeit, über seine Pläne zu sprechen und die Idee, die ihn so gepackt hat, dass sie ihn bis zum Leiter einer Max-Planck-Forschungsgruppe mit 35 Leuten, zum wissenschaftlichen Vizedirektor am MCB, zum Gründer der Core-Facilities und Manager des nationalen Zentrums für Kryoelektronenmikroskopie, zum Jungwissenschaftler 2021 in Polen, zu einer Professur an der Vetmeduni und vor kurzem auch zum EMBO-Member getragen hat.
Ein Thema, ein großes Netzwerk und viel Erfahrung
Das Gespräch findet an der Mensa am Campus statt, wo Sebastian Glatt zwischen Mittel einwerben, Leute rekrutieren, das künftige Labor renovieren sowie Publikationen und Projekte sauber abschließen am MCB in Krakau kurz durchschnauft. Was er als Professor für Systemgenetik nach Wien mitbringt, sind ein umfangreiches Netzwerk und viele Jahre Erfahrung mit RNA-Biochemie sowie Strukturbiologie. Die künftige Wirkungsstätte bezeichnet er als „Sweet Spot“ für das, was er vorhat, denn sein Fachgebiet ist für die Veterinärmedizin komplementär. Bisher hat er sein Wissen in die Erforschung neurodegenerativer Erkrankungen und Krebs im Menschen eingebracht. Aber sein „RNA-zentristischer Blick“ wird auch die Tierklinik sinnvoll ergänzen, weil Ribonukleinsäure für Organismen aller Art ein fundamentales Molekül ist.
Bereits in der ersten Genexpressionsvorlesung an der Uni Wien wurde seine Faszination geweckt, denn wir haben zwar in allen Zellen die gleiche genetische Information, aber dennoch 200 Zelltypen mit verschiedenen Aufgaben im Körper. Die Erbinformation der DNA wird von der RNA-Polymerase abgelesen und die Messenger-RNA ermöglicht es, daraus Proteine zu bauen, was nun in seinem Labor im Fokus steht. Ihn interessiert, „mit welchen Mechanismen unsere Zellen im gesunden Organismus die jeweils benötigten Proteine herstellen und was da bei Krebs oder neurodegenerativen Erkrankungen schiefläuft – im Besonderen spezifische RNA-Modifikationen und das Verständnis ihrer Krankheitsrelevanz. Sie werden neue klinische und diagnostische Ansätze ermöglichen“.
Moderne Sequenzierungsmethoden können die RNA-Sequenz entziffern, aber darin allein liegt oft noch kein Erkenntnisgewinn. Es ist die dreidimensionale Faltung der Basenabfolge zu funktionalen Molekülen, welche die RNA für Diagnostik, Impfungen und Therapien interessant macht. „Einerseits kann sich dieselbe Sequenz zu unterschiedlichen 3D-Molekülen falten, andererseits können verschiedene Sequenzen die gleiche Faltung zeigen“, so Glatt. Die Kryoelektronenmikroskopie als Technik erwischt die Moleküle sozusagen eiskalt und bildet ihre atomare Struktur ab. Seine Forschungsgruppe ist darauf spezialisiert, die dreidimensionale Form von Proteinen und Nukleinsäuren strukturell zu untersuchen, funktional aufzuklären und vorherzusagen. In Krakau hat er für diese Technik eine Core Facility aufgebaut mit der Idee, dass alle Fachrichtungen – von der Fotosynthese bis zur Virologie – diese gemeinsam nutzen können. In Wien gibt es die dafür benötigten Großgeräte in anderen Forschungseinrichtungen und hier will er erst einmal kooperieren.
Den RNA-Blick schärfen
Nach dem Studium der Genetik und Mikrobiologie an der Universität Wien (ein Jahr unter der Mindestzeit) machte er sein Doktorat in der Industrie bei Boehringer Ingelheim Austria. Dort wurde sein Bewusstsein für klinisch relevante Forschung und Projektmanagement geschärft. Fünf Jahre und ein Patent später wechselte er 2008 für acht Jahre an das European Molecular Biology Labor (EMBL) in Heidelberg, ein „akademisches Forschungsparadies“. Mit einem interdisziplinären Postdoc Fellowship wechselte er an die Structural and Computational Unit. Dort holte er nach, was er in der Industrie vermisst hatte: das spielerische Element in der Forschung, die Möglichkeit, Grundlagenforschung ohne vordergründigen Zweck zu betreiben und mit ausreichend Zeit für die Lösung komplexer technischer Probleme an fundamentale wissenschaftliche Erkenntnisse zu gelangen.
Das übergeordnete Ziel am EMBL ist Exzellenz, ausgedrückt letztlich in vielen hochrangigen Publikationen. Von dort brachte Sebastian Glatt die Überzeugung mit ans MCB in Krakau, dass Erfolg bedeutet, eine Umgebung zu schaffen, die möglichst viele erfolgreiche Leute hervorbringt. Einzelleistungen werden so weniger relevant, interne Kollaborationen werden gefördert und alle ziehen am gleichen Strang. Seit 2015 arbeitet Sebastian Glatt am MCB der Jagiellonen-Universität und leitet nicht nur eine Max-Planck-Forschungsgruppe, sondern ist auch wissenschaftlicher Direktor des Instituts und Gründer des Nationalen Zentrums für Kryoelektronenmikroskopie am benachbarten Solaris Synchrotron.
Berufswunsch Naturforscher
Befragt nach den Motiven für das Studium erinnert sich Sebastian Glatt, dass er bereits als Kind auf die Profilseite seines Freundschaftsbuchs als Berufswunsch „Naturforscher“ eintrug. Eine engagierte Biologielehrerin am Gymnasium in Pressbaum ebnete den Weg weiter. Und wenn er noch weiter zurückschaut, sieht er väterlicherseits Humanmediziner als Vorfahren und mütterlicherseits Landwirte, was die Veterinärmedizin zu einer Art Schnittpunkt macht. Es ist für ihn klar, dass Landwirtschaft mit gesunden Tieren und Pflanzen für den Menschen sehr relevant ist, und daher unterstützt er den One-Health-Gedanken voll und ganz.
Auf das Mehr an Basis-Lehrverpflichtung freut sich Sebastian Glatt besonders, weil es bisher eher eine freiwillige, sehr freudvolle Zusatzaufgabe für ihn war. Er balanciert vor seinem Wechsel einmal mehr „auf einem schmalen Grat zwischen Optimismus und Blauäugigkeit“, ist damit aber bisher in seiner Karriere sehr gut gefahren. Als Lehrinhalt will er sich den Grundlagen der Systemgenetik, RNA-Diagnostik und Therapie widmen, wo die Humanmedizin schon weiter fortgeschritten ist: dem Nutzen von spezifischer RNA-Modifikation für klinische Interventionen, also der In-vitro-Forschung und ihrer Bedeutung für die Klinik. Gemäß dem Motto, dass man erst wahrhaft versteht, wenn man die Zusammenhänge auch erklären kann, erwartet er sich Erkenntnisse auf beiden Seiten des Hörsaals.
Glatt findet es wichtig, einen Plan zu haben, ihn aber auch ändern zu können. So wurden bei ihm aus den ursprünglich geplanten drei Jahren EMBL doch ein paar Jahre mehr im Ausland. Und das war gut so. Der alte Freundeskreis hat es überlebt und er freut sich schon wieder auf häufigere Treffen. Wenn er nicht im Labor steht, geht er zum Ausgleich laufen, spielt Basketball und verbringt Zeit mit der Familie.
Text: Astrid Kuffner
alle Fotos: Michael Bernkopf/Vetmeduni
Der Beitrag erschien in VETMED 03/2024